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Der CARIAD Insider Report (und was wir daraus lernen sollten)

Herzlich willkommen zur 70. Ausgabe von Der Autopreneur.

CARIAD steht wie kein anderes Unternehmen für die Herausforderungen der deutschen Autoindustrie.

Lange war VWs Software-Tochter das Sinnbild für alles, was bei der Transformation schiefläuft. Der Sündenbock für Verzögerungen und verpasste Meilensteine.

Auch ich habe oft kritisch über CARIAD berichtet.

Doch in den letzten Wochen habe ich mit Dutzenden Beteiligten gesprochen. Aktuelle und ehemalige CARIAD-Mitarbeiter. Dienstleister. Manager. Menschen, die von Anfang an dabei waren.

Was sie mir erzählt haben, ist die andere Seite der Geschichte.

"Dass bei VW überhaupt noch Fahrzeuge vom Band rollen, liegt nur an uns."

Heute teile ich ihre Perspektive. Und zeige, was wir aus der Case Study CARIAD lernen können.

Hinweis: Dieser Newsletter ist länger als üblich. Die CARIAD-Geschichte ist zu wichtig, um sie oberflächlich abzuhandeln. Alle Zitate wurden anonymisiert und spiegeln die persönlichen Erfahrungen der Beteiligten wider.

KI-generiertes Symbolbild

Die Vision war perfekt, die Umsetzung "maximal dumm"

CARIAD startete 2020 mit einer Vision, die alle begeisterte.

Eine zentrale Software-Einheit für den gesamten VW-Konzern. Endlich Schluss mit Doppelentwicklungen. Mit dem Chaos unterschiedlicher Systeme für jede Marke.

Die Idee war perfekt. Die Umsetzung? "Maximal dumm", wie es ein Insider formuliert.

Denn anstatt klein und fokussiert zu starten, ging man aufs Ganze. Mitarbeiter von VW, Audi und Porsche wurden mit ihren Projekten zu CARIAD verschoben. Von Zulieferern und Tochtergesellschaften kamen weitere dazu. Innerhalb kürzester Zeit wuchs die Organisation auf mehrere Tausend Mitarbeiter.

Ohne klares Konzept. Ohne definierte Rollen. Ohne echtes Mandat.

Das Chaos der ersten Tage

Was dann passierte, beschreibt mir ein Insider so: "Ich kam zu CARIAD und wusste nicht, was meine Aufgabe war. Es gab keine Rollenbeschreibung. Also habe ich angefangen, das aufzubauen, was ich aus der Marke kannte."

Genau das machten alle.

Die Audi-Leute bauten Audi-Strukturen. Die Porsche-Leute Porsche-Prozesse. Die VW-Leute ihre eigenen Systeme.

Statt einer schlanken Software-Company entstand ein Flickenteppich aus kleinen Konzern-Kopien.

Das Ergebnis?

"Ich hatte 17 Status-Meetings pro Woche. Alle wollten den gleichen Status hören, nur auf anderen Folien."

Statt zu programmieren, füllten Entwickler PowerPoints aus. Statt Innovation? Bürokratie.

Die CARIAD-Chronologie:

  • 2019: VW-Chef Herbert Diess startet die Car(.)Software Organisation als interne VW-Einheit

  • 2020: CARIAD wird offiziell gegründet. Ziel: Nach SAP Europas größtes Softwareunternehmen werden

  • 2021: CARIAD übernimmt die Plattformen 1.1 und 1.2 von Audi und Porsche. Erste Probleme werden sichtbar. Die "Task Force" wird ausgerufen, um Krisenmanagement zu betreiben

  • 2022: Eine McKinsey-Studie zeigt strukturelle Probleme bei CARIAD. Softwareverzögerungen führen zu Modellverschiebungen. Diess geht, Blume übernimmt

  • 2023: Neues Management unter Peter Bosch versucht einen Neuanfang. Die Restrukturierung beginnt. Ankündigung Stellenabbau von rund 2.000 Mitarbeitern (etwa 1/3 der Belegschaft)

  • 2024: Der 5-Milliarden-Dollar-Deal mit Rivian - ohne Einbindung von CARIAD

  • 2025: Ein großes Abfindungsprogramm läuft. Bis 2029 gilt die Beschäftigungsgarantie, danach ist die Zukunft ungewiss. Bis heute hat VW etwa 14 Milliarden Euro in diese Vision investiert

Die 7 Geburtsfehler von CARIAD

1. Zu viel, zu schnell

Man schüttete die Organisation mit Geld zu. Innerhalb kürzester Zeit wurden 6.000 Mitarbeiter eingestellt.

"Wir haben alles eingestellt, was einen Laptop tragen konnte. Der Einstellungsprozess dauerte teilweise nur 24 Stunden."

Das Ergebnis war vorhersehbar. Viele der neuen Mitarbeiter hatten null Automotive-Erfahrung. Studenten wurden zu Projektleitern. IT-Berater zu Software-Architekten.

2. Kein Budget

CARIAD wurde nie als echtes Produktunternehmen aufgesetzt.

Sie sollten Software entwickeln, hatten aber kein eigenes Budget. Das Geld kam von den Marken, die dadurch auch die Macht behielten.

CARIAD sollte liefern, durfte aber nichts entscheiden.

3. Die Altlasten

CARIAD sollte eigentlich die Zukunftsarchitektur entwickeln. Die Plattform 2.0 für alle Marken im VW-Konzern.

Doch 2021 bekamen sie einen zusätzlichen Auftrag: Die berüchtigten Plattformen 1.1 und 1.2, an denen schon Audi und Porsche gescheitert waren.

"Die 1.2 hatte 200 verschiedene Zulieferer. Das System war so überladen, dass der Großteil der Rechenleistung nur für Sonderwünsche draufging."

Ein Insider beschrieb mir die Komplexität: Ein Radar von Lieferant A sendet Daten an eine Kamera von Lieferant B. Die konsolidiert und sendet weiter an einen Long-Range-Radar von Lieferant C. Das geht dann an ein Steuergerät von Lieferant D, in dem aber eine Software von Lieferant E läuft.

Und zwischen den Steuergeräten von Lieferant D und E klappte die Kommunikation nicht.

Der Zielkonflikt war also vorprogrammiert. "Wir sollten die Zukunft bauen. Stattdessen haben wir von da an nur noch Firefighting gemacht."

4. Die Software-Company ohne Software

Hier wird's absurd: CARIAD sollte eine Software-Company werden. Tatsächlich wurde aber kaum Software entwickelt.

"Ich hatte Testmanager, Error Manager, Projektleiter. Aber keinen einzigen Coder in meinem Team."

Stattdessen wurde weiter wie bisher gearbeitet: Man beauftragte externe Dienstleister. CARIAD wurde zur teuren Zwischenstation.

"Wir waren nur ein Durchlauferhitzer. Die Software kam vom Tier-1-Zulieferer, wir haben sie angeschaut und an die Marken weitergereicht."

5. Der Konflikt mit den Marken

Was von außen nicht sichtbar war: Der erbitterte Kampf zwischen den Marken ging bei CARIAD weiter.

"Audi wollte dies, Porsche wollte das, VW wollte wieder was anderes."

Die Marken sahen CARIAD als ihren Dienstleister. CARIAD sah sich als Product Owner. Dieser Konflikt wurde bis heute nie gelöst.

"Wir haben teils dasselbe Feature 6 Mal entwickelt, weil jede Marke einen anderen Flow wollte."

Noch schlimmer: Die Marken arbeiteten aktiv gegen CARIAD. Sie fürchteten Machtverlust durch die Zentralisierung. Statt Kompetenzen abzugeben, bauten sie parallel eigene Teams auf. Sie blockierten Entscheidungen. Manche streuten sogar bewusst negative Stories in die Medien.

"Porsche entwickelt für 250.000 Autos im Jahr eine eigene Plattform. Nur weil sie nichts von Audi übernehmen wollen. Das ist Kindergarten-Niveau."

6. Manager aus der alten Welt

"Man hat den Bock zum Gärtner gemacht. Dieselben Manager, die früher schon bei den Marken gescheitert waren, sollten nun die digitale Zukunft bauen."

Viele Führungskräfte kamen aus der Hardware-Welt. Software? Agile Methoden? Kannten sie nicht.

Stattdessen: PowerPoints. Statusmeetings. Konzernpolitik.

"Die Strukturen bei VW fördern Menschen, die vor allem an ihrer Karriere interessiert sind. Denen ist das Produkt oder das Unternehmen völlig egal."

Viele Manager nutzten CARIAD als Sprungbrett für die eigene Karriere. Der Erfolg des Unternehmens war dabei nebensächlich.

7. Die Wohlfühlkultur

Was mir die Cariadians zur Arbeitskultur erzählt haben, wirkt paradox.

Die sei mit das Beste an CARIAD gewesen. Keine Überstunden. Home-Office-Garantie. Die Vorteile des Konzerns, nur eben noch besser bezahlt. Sehr bequem und arbeitnehmerfreundlich.

Andererseits merkten sie selbst: So gewinnt man kein Rennen gegen Tesla oder chinesische Startups.

"Bei CARIAD wird im Jahresschnitt unter 40 Stunden gearbeitet. Freitag 11 Uhr war Wochenende. So gewinnst du kein Spiel gegen Asien."

Die Task Force verschlimmerte die Probleme

Die Probleme wurden immer offensichtlicher.

Model-Launches mussten verschoben werden, weil die Software nicht fertig war. Der Druck auf CARIAD wurde immer größer.

2021 wurde die "Task Force" ausgerufen. Sie sollte die Probleme lösen. Stattdessen machte sie alles schlimmer.

"Plötzlich mussten wir morgens und abends Statusberichte liefern. Von da an ging es nur noch um Feuerlöschen. Keiner hat mehr produktiv entwickelt."

Dann kam Sanjay

Genauer gesagt: Sanjay Lal. Der Mann hatte bei Google, Tesla und Rivian gearbeitet. Er war die große Hoffnung.

Er verstand Software. Hatte eine klare Vision für die Zukunft.

"Mit Sanjay kam wieder Aufbruchstimmung. Endlich jemand, der weiß wovon er spricht."

Sanjay baute den SDV-Hub auf. Integrierte Porsche und Audi. Und versuchte so die andauernden Konflikte mit den Marken zu beenden.

Für kurze Zeit schien alles perfekt. Als hätte man endlich den Turnaround geschafft.

Sanjay arbeitete etwa ein Jahr lang daran, CARIAD auf Kurs zu bringen. 

Aber dann kam der Rivian-Deal. Ausgehandelt ohne Beteiligung von CARIAD.

Von heute auf morgen hieß es: Alle Zukunftsthemen gehen ins neue Joint Venture mit Rivian. Auch der SDV Hub. Aber ohne die Mitarbeiter.

"Wir sind jetzt nur noch für Legacy zuständig. Keine Innovation mehr, nur noch Wartung bis 2029."

Auch Sanjay Lal hat das Unternehmen mittlerweile verlassen.

Aber woher kam dieser abrupte Strategiewechsel?

"Oliver Blume hat das Rivian Joint Venture nur gegründet, weil er die Macht der Marken nicht brechen konnte."

Diese Aussage trifft den Kern: Bei VW hat aktuell niemand die Macht, alle zu vereinen. Die Marken agieren wie Fürstentümer. Jeder verteidigt sein Territorium. Und sie kämpfen dafür, die alten Strukturen um jeden Preis zu erhalten.

Wie geht es jetzt weiter?

Bei all der Kritik geht das oft unter: CARIAD hat geliefert.

"Die 1.1 Plattform läuft heute in Millionen Fahrzeugen. Stabil. Die 1.2 haben wir soweit stabilisiert, dass die Fahrzeuge auf die Straße kommen konnten."

Die Software im ID.7 wird von Kunden als die beste bezeichnet, die VW je hatte.

"Ohne uns würde kein einziges Fahrzeug vom Band rollen. Aber das sieht niemand."

Aber was wird jetzt aus CARIAD?

Nach dem Rivian-Deal bleiben folgende Kompetenzen im Unternehmen:

  • Die bestehende Software (Legacy)

  • ADAS/Autonomes Fahren (in Zusammenarbeit mit Bosch)

  • Cloud-Dienste

Das Problem: Für diese reduzierten Aufgaben hat CARIAD viel zu viele Mitarbeiter. Undercover läuft ein massives Abbauprogramm.

"Die Motivation ist komplett eingebrochen. Viele fühlen sich verraten."

"Wir haben uns jahrelang abgerackert, 130% gegeben. Und jetzt werden wir abgewickelt."

Einige berichten sogar von Burnout-Fällen. Wer kann, nimmt die Abfindung oder wechselt zurück in die Marken.

Bis 2029 läuft die Beschäftigungsgarantie. Was danach kommt?

3 Szenarien zeichnen sich ab:

  1. Service-Einheit: Wartung plus ausgewählte Tech-Module für den Konzern

  2. Tech-Boutique: Schlanke Spezialeinheit für ADAS/Cloud

  3. Schleichende Abwicklung: Aufgaben wandern bis 2029 komplett ab

Die meisten Insider tippen auf Szenario 3.

Was wir daraus lernen müssen

Learning 1: Kleine Teams > große Organisationen

6.000 Mitarbeiter ohne echte Entscheidungsmacht erzeugen vor allem Chaos. Ein schlankes Team mit voller Verantwortung hätte mehr erreicht.

Learning 2: Alt und Neu gehören nicht zusammen

Legacy und Innovation unter einem Dach funktioniert nicht. Es braucht konsequente Trennung.

Learning 3: Kultur entsteht nicht per Dekret

Wer aus Konzern-Managern eine Software-Company machen will, erntet eine teure Kopie des Konzerns.

Learning 4: Ohne Macht keine Transformation

Wenn der CEO sich nicht gegen die Fürstentümer durchsetzen kann, ist jede Transformation zum Scheitern verurteilt.

Learning 5: Wer zahlt, bestimmt

Solange die alte Welt die neue Welt finanziert, bleiben die Machtverhältnisse zementiert. Echte Transformation braucht echte Unabhängigkeit.

Mein Take

CARIAD ist eine Case Study. Sie zeigt, warum die Transformation der deutschen Autoindustrie so schwerfällt.

Das Problem: Wir kämpfen nicht nur gegen Wettbewerber. Wir kämpfen vor allem gegen uns selbst.

Ich beschreibe es gerne so: Die Transformation ist wie ein Sprint.

Die Chinesen stehen in schicken neuen Nikes an der Startlinie. Wir schleppen eine schwere Metallkugel am Bein mit. So eine mit Kette am Fuß. Wie in den alten Filmen. 

Diese Metallkugel sind unsere über Jahrzehnte gewachsenen Strukturen. Unsere Hierarchien. Unsere Prozesse. Unsere Machtspiele

Während Newcomer auf der grünen Wiese starten, müssen wir ein Jahrhundert Geschichte transformieren.

CARIAD zeigt: Das geht nicht, indem man eine neue Einheit gründet und 6.000 Leute einstellt.

Unsere größte Schwäche ist nicht die Technologie. Es ist unsere Unfähigkeit, uns zu verändern.

Die Mitarbeiter von CARIAD haben unter unmöglichen Bedingungen Unmögliches geleistet. Dafür verdienen sie Respekt.

Wir sind es ihnen schuldig, dass ihre Arbeit nicht umsonst war.

Aus diesem teuren Experiment müssen wir die richtigen Schlüsse ziehen.

Wenn wir morgen noch mitspielen wollen, müssen wir bereit sein, alles zu ändern. Strukturen. Kultur. Und vor allem: Machtverhältnisse.

Das bedeutet auch, konsequent zu sein. Sich von denen zu trennen, die den Wandel blockieren. Die am Status quo festhalten. Die Zeit der “kleinen Fürsten” muss endlich vorbei sein.

Die Zeit läuft.

PS: Wie immer bespreche ich das Thema noch ausführlicher im begleitenden Podcast.

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Philipp Raasch

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— Philipp Raasch

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