Autonomes Fahren kommt, aber anders als du denkst

Herzlich willkommen zur 66. Ausgabe von Der Autopreneur!

Diese Woche ist etwas anders: Ich bin gerade in Shanghai. Hier habe ich unter anderem die Auto Shanghai besucht. Deshalb konnte ich den Newsletter nicht wie gewohnt selbst schreiben.

Aber: Ich habe die perfekte Vertretung gefunden.

Daniel Abreu Marques ist Stratege für autonomes Fahren bei Daimler Truck. Er schreibt seit Kurzem auch selbst einen Newsletter dazu: The AV Market Strategist.

Was mich bei Diskussionen über autonomes Fahren immer stört: Es kursiert extrem viel Halbwissen. Jeder hat eine Meinung. Kaum jemand kennt die Fakten. Dazu kommen verwirrende Begriffe und widersprüchliche Aussagen.

Deshalb habe ich Daniel gebeten, Klarheit zu schaffen: Wo stehen wir wirklich? Wer sind die relevanten Player? Wie ordnen wir das Thema richtig ein?

Ich finde: Das ist ihm richtig gut gelungen.

Übrigens: Den begleitenden Podcast konnte ich trotzdem aufnehmen. Dort teile ich, was ich von Daniel gelernt habe. Und ergänze meine Einschätzung. Den Podcast findest du hier.

KI-generiertes Symbolbild

Gastbeitrag von Daniel Abreu Marques:

Fahrerassistenz ist nicht autonomes Fahren

Wenn dein Auto selbstständig bremst, in der Spur bleibt oder den Abstand hält, wirkt das beeindruckend. Oft denkt man: "Mein Auto fährt schon fast von allein."

Der entscheidende Punkt wird dabei übersehen: Diese Systeme unterstützen dich nur. Sie übernehmen keine Verantwortung. Sie helfen dir beim Fahren, ersetzen dich aber nicht.

Die SAE-Level von 0 bis 5 bringen Ordnung in dieses Thema. SAE steht für "Society of Automotive Engineers" - ein Fachverband, der diese Klassifikation entwickelt hat.

Die 6 Level zum autonomen Fahren

Level 0: Keine Automatisierung - du steuerst komplett allein.

Level 1: Einzelne Assistenzfunktionen unterstützen dich - aber nie gleichzeitig. Beispiel: Tempomat ODER Spurhalteassistent.

Level 2: Mehrere Funktionen arbeiten zusammen - du musst trotzdem ständig aufmerksam sein. Beispiel: Tempomat UND Spurhalteassistent gleichzeitig.

Level 2+: "Hands-free" auf Autobahnen möglich - wie bei Teslas Autopilot. Du bleibst verantwortlich.

Level 3: Das Auto fährt in bestimmten Situationen eigenständig. Du darfst dich abwenden - musst aber bei Aufforderung sofort übernehmen.

Level 4: Völlig selbstständiges Fahren in einem definierten Umfeld. Kein Fahrer nötig - aber nur innerhalb eines begrenzten Gebiets.

Level 5: Volle Autonomie - überall, jederzeit, bei jedem Wetter. Der Mensch wird zum Passagier.

Die SAE-Level im Überblick: Von manueller Kontrolle bis zur vollständigen Autonomie (Quelle: P3 - ADAS Market Insights)

Der aktuelle Stand

Die meisten Neufahrzeuge kommen heute mit Systemen der Level 1 oder 2 auf den Markt. Adaptiver Tempomat oder Spurhalteassistent sind längst keine Luxusfeatures mehr.

L2+ Systeme mit "hands-free"-Funktionalität erleben gerade ihren Durchbruch. Sie bieten spürbaren Komfortgewinn, sind technisch beherrschbar und wirtschaftlich darstellbar:

  • Einfache L2-Systeme kosten unter 700 Dollar

  • L2+ Systeme kosten bis zu 3.000 Dollar

Level 3 Systeme sehen wir aktuell nur bei wenigen Herstellern. Mercedes bietet "Drive Pilot", BMW den "Personal Pilot" - aber nur in Deutschland. Diese Systeme gelten inzwischen als Übergangslösung ohne breite Zukunft.

Warum Level 3 eine Sackgasse ist

Sicherheitsrisiken: Der Fahrer muss innerhalb weniger Sekunden übernehmen. Im realen Verkehr ist das oft unrealistisch.

Haftung: Die Verantwortung wechselt formal auf das System. Unklare Rechtslagen verunsichern Hersteller und Kunden.

Kosten: L3-Systeme brauchen fast die gleiche Technik wie L4. Sie bieten aber nicht signifikant mehr als L2+.

Falsche Erwartungen: Kunden erwarten bei L3 "volles autonomes Fahren". Die Realität enttäuscht sie.

Deshalb setzen viele Hersteller jetzt wieder auf L2+. Hier stimmt das Verhältnis von Kosten und Nutzen.

Die globalen Märkte entwickeln sich unterschiedlich schnell. China macht beim autonomen Fahren das Tempo, dicht gefolgt von den USA. Europa und Japan liegen deutlich zurück.

So funktioniert echtes autonomes Fahren

Im Kern imitiert autonomes Fahren den menschlichen Fahrprozess:

Wahrnehmung: Sensoren (Kamera, Radar, LiDAR) erfassen die Umwelt – wie unsere Augen.

Positionsbestimmung: GPS, Kamera- und LiDAR-Daten lokalisieren das Fahrzeug präzise.

Planung & Vorhersage: Das System plant eine sichere Route durch den Verkehr.

Steuerung: Gas, Bremse und Lenkung werden präzise umgesetzt – wie unsere Motorik.

2 technische Ansätze konkurrieren

1) Der klassische Weg: Modular und regelbasiert

  • Getrennte Module für Wahrnehmung, Planung und Steuerung

  • Klare Regeln bestimmen die Reaktionen: "Wenn Fußgänger → Bremsen"

  • Vorteile: Nachvollziehbare Entscheidungen, einfachere Fehlersuche

  • Nachteile: Höheres Fehlerpotenzial, begrenzte Lernfähigkeit

Modulare Architektur: Der traditionelle Ansatz mit separaten Komponenten (Quelle: Rosaro et al. 2024)

2) Der neue Weg: End-to-End KI

  • Ein einziges neuronales Netz für alle Fahraufgaben

  • Lernt direkt aus Rohdaten, ohne feste Regeln

  • Vorteile: Bessere Anpassungsfähigkeit, schnellere Lernkurven

  • Nachteile: Schwer nachvollziehbare Entscheidungen, Sicherheitsnachweis kompliziert

End-to-End Architektur: Ein neuronales Netz übernimmt alle Fahrfunktionen (Quelle: Rosero et al. 2024)

Wayve und Tesla sind die Vorreiter des End-to-End-Ansatzes:

  • Tesla setzt auf reine Kamera-Inputs ohne Lidar oder Radar

  • Wayve nutzt ein zentrales neuronales Netz, das in jeder Stadt funktionieren soll

Wayve expandiert aktuell:

  • Tests in Deutschland, USA und Japan

  • Partnerschaft mit Nissan ab 2027

  • Strategie: Erst millionenfache L2-Deployments via OEMs → daraus Lernen → hochskalieren auf L4

L4 Robotaxis fahren schon heute

Vollautonome Privatfahrzeuge sind noch Zukunftsmusik. Aber Level 4 ist bereits Realität.

Robotaxis in definierten Gebieten übernehmen das Steuer komplett. Sie fahren ohne Sicherheitsfahrer. Und transportieren bereits zahlende Kunden.

In den USA

Waymo (Alphabet) ist klar vorne:

  • Service in Phoenix, San Francisco, Los Angeles und Austin

  • Etwa 250.000 bezahlte Fahrten pro Woche

  • Klarer Marktführer für kommerzielle L4-Dienste

Tesla macht erste Schritte:

  • Tests mit Mitarbeitern in Austin und der Bay Area

  • Rund 1.500 Fahrten und 15.000 Meilen - bisher mit Fahrer an Bord

  • Geplanter Start: Sommer 2025 in Austin mit 10-20 Model Ys

Elon Musk behauptet: "Tesla wird 99% Marktanteil erreichen."

Sein Argument: Waymo hat zwar einen technologischen Vorsprung, kann aber wegen hoher Kosten nicht so schnell wachsen. Teslas günstigere Fahrzeuge seien global besser ausrollbar.

Die Realität:

  • Waymo bietet heute schon fahrerlose Dienste in mehreren Städten an

  • Tesla steht mit seinen Tests erst am Anfang

In China sollte man 3 Player auf dem Schirm haben

Pony(.)ai:

  • Über 300 Robotaxis im Einsatz

  • Partnerschaften mit Toyota, BAIC und GAC

  • Ziel: 1.000 Robotaxis dieses Jahr, 10.000+ in drei Jahren

  • Aktiv in Peking, Guangzhou, Shanghai, Shenzhen und Luxemburg

WeRide:

  • Bietet Robotaxis, autonome Busse und Lieferfahrzeuge

  • Aktiv in sechs chinesischen Städten plus Abu Dhabi

  • Tests in Europa (Zürich, Frankreich, Spanien)

  • Ziel: 5.000+ Robotaxis in drei Jahren

Apollo Go (Baidu):

  • Aktiv in sechs chinesischen Großstädten

  • 1,1 Millionen Fahrten im Q4/2024

  • Expansion in die VAE: 100 Robotaxis bis Ende 2025, 1.000+ bis 2028

  • Tests in Hong Kong

China zeigt: Wer früh und mutig handelt, gewinnt. Nicht nur im Heimatmarkt.

Das Robotaxi-Ökosystem

Auch in einer autonomen Zukunft bleiben die klassischen Autohersteller wichtig.

Sie liefern optimierte Fahrzeugplattformen und können günstig produzieren. Beides ist entscheidend für wirtschaftliche Robotaxi-Flotten.

Aber: Das Fahrzeug ist nur ein Teil eines größeren Systems. Zum Robotaxi-Ökosystem gehören:

  1. Autohersteller: Bauen spezielle Fahrzeugplattformen

  2. Tech-Unternehmen: Entwickeln die eigentliche Fahrintelligenz

  3. Versicherungen: Schaffen neue Haftungsmodelle

  4. Städte & Infrastrukturbetreiber: Stellen Lade- und Wartungsmöglichkeiten

  5. Flottenbetreiber: Kümmern sich um Reinigung, Wartung und Fernüberwachung

  6. Behörden: Setzen den rechtlichen Rahmen

  7. Nutzer: Entscheiden über Akzeptanz und Integration

Der Autohersteller bleibt wichtig. Aber Robotaxis funktionieren nur in einem Ökosystem, in dem alle Akteure zusammenspielen.

Mein Take

Autonomes Fahren wird Realität - aber anders als viele denken:

  • Kurzfristig setzen sich L2+ Systeme im Privatmarkt durch

  • Langfristig entstehen Ökosysteme für Robotaxis und autonome Shuttles

  • Der Wettbewerb entscheidet sich nicht mehr nur über das Fahrzeug, sondern über die Gesamtplattform

Autonomes Fahren ist kein Feature. Es ist eine komplette Systemtransformation.

Wie du siehst, tut sich gerade richtig viel in der Automobilbranche.

Wenn du den Überblick behalten willst:

Ich versende jeden Mittwoch ein Automotive Intelligence Briefing für Unternehmen.

Darin enthalten: Alle erfolgskritischen Updates der Branche. In 5 Minuten gelesen.

Ich sehe das essential für alle Unternehmen mit Automotive-Exposure.

Denn nur wenn du das Big Picture verstehst, kannst du dein Unternehmen, deinen Geschäftsbereich oder dein Projekt optimal ausrichten.

📊 Aktien-Performance

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Hier die Wochenperformance der wichtigsten Automotive-Werte:

Woche Δ: Kursveränderung der letzten Woche
YTD Δ: Kursänderung seit Jahresbeginn

Verstehen, was hinter diesen Zahlen steckt? Mein Automotive-Intelligence Briefing liefert alle Hintergründe.

Das war’s für heute:

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Philipp Raasch

Bis zum nächsten Mal,
— Philipp Raasch

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